Donnerstag, 31. August 2017

Victoria

Regie: Sebastian Schipper

Nachts auf den Straßen von Berlin...

Mit "Victoria" hat Sebastian Schipper nach dem 2001er Erfolg "Absolute Giganten" seinen zweiten Geniestreich gemacht. In beiden Filmen spielt auch die Stadt in der sie spielen die Hauptrolle. So ist es nur wenigen Filmemachern gelungen das Flair der Stadt - also Hamburg in "Absolute Giganten" und Berlin in "Victoria" - so überzeugend darzubieten wie Schipper. Trotzdem sind die Filme in der Machart sehr unterschiedlich. Während "Abolute Giganten" von einer schönen Melancholie durchzogen wird, ist das Szenario in "Victoria" dynamisch, hektisch bis pulsierend. Aber der Regisseur legt auch hier Wert auf stille Momente, die dann umso intensiver wahrgenommen werden. Wenn sich etwa die Spanierin Victoria (Laia Costa), in dem Cafe in dem sie für 4 Euro Stundenlohn arbeitet, ans Klavier setzt und ihren Zuhörer Sonne (Frederic Lau) mit ihrem intensiven Spiel und mit einer atmosphärischen Klaviersonate magisch bezaubert.  Ungeduldigen Zuschauern muss man vielleicht sagen, dass sie auf jeden Fall dranbleiben sollen. Denn der Anfang ist sehr ungewöhnlich konzipiert. Die Kamera läuft stets mit den Akteuren mit, die sich am Anfang in einem Berliner Club zum ersten Mal sehen. Eine junge Spanierin sucht dort vergeblich Kontakt, bis sie auf der Straße von vier Jungs angequatscht wird. Sonne scheint der Anführer des Quartetts zu sein, zu dem auch der glatzköpfige Boxer (Frank Rogowski), der Türke Blinker (Burak Ygit) und das betrunkene Geburtstagskind Fuß (Max Mauf) gehören. Die Kamera begleitet das Quartett, das Mädchen schließt sich der komischen Gang an. Es folgen Bilder vom nächtlichen Berlin, dazwischen reden die Akteure lauter dummes Zeug. Die Kamera ist in ständiger Bewegung: Rotierend und delierend. Dies ist für eine deutsche Produktion sehr innovativ und der Film wurde sehr schnell mit "Lola rennt" verglichen, mich erinnerte die Machart aber sehr stark an "Irreversibel" oder "Enter the Void",  diese bemerkenswerten Filme von Gaspar Noe mit ihren aussergewöhnlichen Kameraperspektiven und -fahrten. Die Jungs zeigen ihrer neuen Bekanntschaft das Berlin der Hinterhöfe, ein Hochhausdach ist der regelmässige Treffpunkt der Gruppe. Sie albern herum und man verständigt sich in englisch, da Victoria nicht deutsch spricht. Es ist Berlin, es hat die zweite Hälfte der Nacht schon längst begonnen. Doch die Stadt ist noch wach und ab 4 Uhr nimmt die Begegnung zwischen den vier Jungs und Victoria eine gefährliche Wendung. Plötzlich ist alles anders. Eine Knastbekanntschaft von Boxer verlangt von diesem einen Gefallen, seine drei Freunde sollen ihm dabei helfen. Nur blöd, dass es sich dabei um einen Überfall auf eine Privatbank handelt. Da Fuß inzwischen zu stark alkoholsiert und nicht mehr mitmachen kann, wird er durch Victoria ersetzt, die das Auto fahren soll. Das Mädchen willigt naiv ein mitzumachen, denn sie möchte Sonne damit einen Gefallen machen...





"Victoria" ist ohne erkennbare Schnitte gedreht, die Kamera lief beim Drehen einfach mit. Dabei wandelt der Film auch auf den Spuren des Hitchcock Klassikers "Cocktail für eine Leiche". Das Szenario ist dadurch äusserst dynamisch und ehe man sich versieht ist man in einen Sog hineingezogen worden, der einfach fesselt. Dabei ist man nicht einfach als Zuschauer dabei, sondern mittendrin im Geschehen. Man lebt diese durchzechte Nacht bis zur Katastrophe in den frühen Morgenstunden einfach hautnah mit. Kameramann Sturla Brandth Grovlen gewann einer der 7 Preise beim deutschen Filmpreis. Der Film gewann auch Gold als bester Film. Schipper wurde als bester Regisseur ausgezeichnet, ausserdem konnten die beiden Hauptdarsteller Frederick Lau und Neuentdeckung Laia Costa triumphieren. Desweiteren wurde die pulsierende Filmmusik (Nils Frahm) und die Tongestaltung prämiert. Gesprochen wird im Film nur teilweise Deutsch, die Berliner kommunizieren mit einem meist flüssig improvisierten Englsich, dass heute schon fast zum offiziellen Dialekt Berlins geworden ist. Und man bemerkt: Es ist immer was los in dieser brodelnden Weltstadt, auch noch in den frühen Morgenstunden und vor allem auch im Mikrokosmos Hinterhof. Das Skurrile ist an der Tagesordnung. So kann die Gruppe unbemerkt ein paar Bier im Laden, der nachts offenhat klauen, denn der Besitzer ist an der Kasse eingeschlafen. Aber auch das Böse lauert. Durch das Auftauchen der Gangster wird aus "Victoria" ein komplett anderer Film mit bemerkenswerten Thriller-Qualitäten. Der Film setzte auf Risiko und hat meiner Meinung nur gewonnen. Diese irre Odyssee durch eine ziemlich triste Ecke von Neukölln ist ein großartiger Trip - auch eine Studie über Fremdheit und Verlorenheit, seine Geschichte wirkt roh und echt.




Bewertung: 9 von 10 Punkten.

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