Regie: Vittorio de Sica
Das Märchen vom Findelkind Toto...
In den Jahren zwischen 1946 und 1952 hat Vittorio de Sica wahrscheinlich
seine berühmtesten Filme gedreht. Neben "Fahrraddiebe" sind die
"Schuhputzer", "Umberto D." und das Märchen "Das Wunder von Mailand".
Es ist allerdings ein modernes Märchen mit den Elementen des
Neorealismus. Ein Märchen, dass die Realität nicht mißachtet. Es
schildert wie viele Filme dieser Gattung das Elend und die Armut der
Menschen und stellt diesen sozial nicht gerade begünstigten Zeitgenossen
skrupellose Reiche gegenüber, die durch ihre Macht das Gesetz auf ihrer
Seite haben. "Das Wunder von Mailand" erinnert stellenweise an die
Filme Chaplins, sein Held Toto hat ähnliche Züge wie der Tramp. An
machen Stellen fährt der Film haarscharf am Kitsch vorbei, aber einem
Märchen erlaubt man das. Und das oft kritisierte Ende mit dem Ritt auf
dem Besen in den Himmel kann auch am Ende übersetzt werden mit einem
unerfüllbaren Wunschtraum für diese Menschen. Denn die Wirklichkeit kann
nur anders aussehen als dieses schöne HappyEnd durch eine übergeordnete
Kraft.
Die religiöse Verwandschaft des Märchens beginnt auch schon in der
Anfangsszene als die alte skurille Lolotta (Emma Gramatica) in ihrem
Garten, nahe eines Flußes, zwischen dem eigenen Blumenkohl ein kleines
Baby findet. Wie Moses in seinem Binsenkörbchen nimmt die alte Frau den
Jungen auf und nennt ihn Toto (der junge Toto wird von dem 11jährigen
Gianni Branduani gespielt). Die Alte weiße Frau lernt ihm das Einmaleins
und wenn Toto mal die Milch verschüttet, gibts keinen Ärger, sondern
beide tanzen und hüpfen an dieser Stelle auf dem Boden. So wird aus Toto
ein herzensguter Junge. Als die alte Dame stribt, wird der Junge in ein
Waisenhaus gesteckt. Als Volljähriger (Francesco Golisano) wird er
entlassen. Seine Lebensfreude ist geblieben und er grüßt freundlich die
wildfremden Menschen auf der Straße, die ihm auf seinem Weg ins
Ungewisse begegnen. Statt Freundlichkeit erntet er aber Unverständniß
bis hin zu Unfreundlichkeit. Als ein Obdachloser ihm seine Tasche klaut,
verfolgt Toto den Mann und stellt ihn zur Rede. Als der arme Mann
traurig die Tasche wieder hergibt, hat Toto Mitleid und schenkt dem
Fremden die Tasche. Dieser lädt ihn ein in seine erbärmliche Behausung
in einer Barackensiedlung am Stadtrand, wo Toto übernachtet. Dort wird
sehr schnell seine freundliche Art geschätzt. Toto schafft es mit seinem
Wesen die Menschen dort etwas glücklicher zu machen. Er wird Lehrer
dieser Obdachlosen und gemeinsam gestalten sie die ärmlichen Behausungen
um, sie versehen jede Blechunterkunft mit einem Straßennamen und
Nummer. Die Nummern bestehen aus Rechnungen aus dem Einmaleins. So
lernen die Kinder auch etwas. Bei einem Volksfest, dass die Armen
veranstalten, wird plötzlich eine Erdölquelle auf dem Gelände entdeckt.
Davon bekommt der reiche Besitzer Mobbi (Guglielmo Barnabo) Wind und mit
einem Aufgebot an Polizisten versucht der Unternehmer die Menschen aus
ihren primitven Hütten zu vertreiben - notfalls auch mit brutaler
Gewalt. Nur gut, dass Totos verstorbene Ziehmutter ihm eine weiße Taube
vom Himmel schickt. Das Tier erfüllt seinem Besitzer jeden Wunsch. So
kann er zunächst den geplanten Abriß des Viertels verhindern und den
armen Menschen nützliche bis sonderbare Wünsche erfüllen. So erwacht
eine Statue zum Leben (Alba Arnova) und macht die Männer wild, für viele
Menschen gibt es warme Pelzmäntel, ein Klavier steht plötzlich da und
Totos ungeschickte Verehrerin (Brunella Bovo) bekommt endlich Schuhe. Da
zwei Engel die Taube wieder an den rechtmäßigen Standort im Himmel
bringen, hat das Wünschen auch bald am Ende. Dadurch gelingt es nicht
die brutale Realität dauerhaft zu überwinden, aber ein Besenritt per
Himmel ist noch drin...
Das Märchenhafte, das sich in einer Fülle von burlesken Szenen und
einfallsreichen optischen Spielereien entfaltet, ist aber immer noch so
konzipiert, dass der Blick auf die Realität gewahrt bleibt. Insgesamt
ist "Das Wunder von Mailand" entwaffend unschuldig und hat eine ganze
Menge unvergesslicher Szenen. Der Schluß ist trotz des Himmelsritts eher
ernüchternd, denn er offenbart ja schließlich die traurige Erkenntniss,
dass alles Böse und schlechte der Welt nur durch ein Wunder oder durch
eine Himmelsmacht besiegt werden kann. Er setzt auch der Species des
Gutmenschen ein Denkmal. Daher ist diese völlig unegoistische Güte, die
Toto verkörpert, auch heute aktuell denn je. Und auch kritisiert wie nie
- so ist der Mann, dem Toto nach seinem Aufenthalt im Waisenhaus, auf
der Straße grüßt und der extrem unfreundlich auf diese Freundlichkeit
reagiert, der Prototyp des modernen Menschen unserer Zeit.
Bewertung. 8 von 10 Punkten.
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