Freitag, 9. Dezember 2022

Raw



















Regie: Julia Ducurnau

Lust auf Fleisch...

"Somos lo que hay" ist spanisch und heißt übersetzt "Wir sind was wir sind". Das Filmdebüt von Jorge Michel Grau erzählt die Geschichte einer Familie, die Menschenfleisch zum Überleben braucht. Es ist auch der erste nennenswerte Horrorbeitrag, der tiefer in die Welt der Menschenfresser eindringt und sich auch psychologisch diesem Zwiespalt dieser zerstörerischen Sucht der Protagonisten widmet. "Wir sind was wir sind" hatte beinahe schon eine poetische Note und Jim Mickles Remake für den US-Markt "We are what we are" tat es ihm gleich. So hatten beide Filme eine gewisse Verwandtschaft zum schwedischen Vampirfilm "So finster die Nacht", der auch ins Innenleben eines kleinen Vampirmädchen blickt und ihr einen introvertierten Jungen als Partner zur Seite stellt, damit sich die beiden anfreunden können. Erwähnenswert in dieser Genreschau ist natürlich auch Antonia Birds "Ravenous" und S. Craig Zahlers "Bone Tomahawk" - beide Arbeiten erzählen von Kannibalen im Wilden Westen. Frank Marshalls "Überleben" hatte das Flugzeugunglück vom 13. Oktober 1972 zum Thema. Die Maschine mit einer Gruppe junger Rugbyspieler stürzte in den Anden ab. Um zu überleben ernährten sie sich irgendwann vom Fleisch ihrer verstorbenen Kameraden.
Tatsächlich hat aber des Kinos Lieblingskannibale Hannibal Lecter deren Sicht auf die Menschenfresser verändert. Ein Feingeist, ein Psychiater mit der dunklen Leidenschaft als kannibalistischer Serienkiller und dessen Speiseempfehlung Kinogeschichte schrieb "Einer dieser Meinungsforscher wollte mich testen. Ich genoss seine Leber mit ein paar Fava-Bohnen, dazu einen ausgezeichneten Chianti".
In den 70ern hatte der Kannibalenfilm Hochkonjunktur mit "Mondo Cannibale" von Umberto Lenzi, "Der Vogelmensch" und vor allem durch "Cannibal Holocaust - Nackt und zerfleischt" von Ruggero Deodato. Diese Filme lösten eine Welle aus, alle sehr billig heruntergekurbelt und leider auch sehr oft mit widerlichen Tier Snuff Szenen angereichert.
Der französisch-belgische Film "Raw" (Original: Grave)  geht da natürlich die Wege, die bereits mit "Wir sind was wir sind" eingeschlagen wurden und hat durch die noch sehr junge Protagonistin (eine Studentin der Tiermedizin) noch zusätzlich eine Coming of Age Variante. Die Regisseurin Julia Ducournau arbeitete mit einer tiefen Symbolik und destruktiver Atmosphäre. Die junge Studentin, noch ein Teenager, wird mit ihrer gewaltvollen, aggressiven und sexuellen Wildheit konfrontiert. Kritiker sehen die Nähe zu "So finster die Nacht" aufgrund des poetischen Einschlags und andere erkannten eine Mischung aus "Suspiria" und "Ginger snaps". Möglicherweise eine erotische Meditation über den Urhunger aller Art, nicht zuletzt über das Tier im Menschen.
In ihrem ersten Spielfilm versucht die Filmemacherin die Veränderungen eines Teenagers zu ergründen, die durch innere Einflüsse zur Erwachsenen Frau heranreift. Doch dieser Reifeprozess gestaltet sich als enorm schwierig. Justine (Garance Marillier) wird von ihren Eltern (Laurent Lucas/Joanna Preis) auf den Campus der Uni gefahren. Sie wird dort wie ihre ältere Schwester Alexia (Ella Rumpf) ihr Studium an einem Institut für Tiermedizin beginnen. Sie soll mit einer anderen Studentin ein Zimmer teilen, doch zu ihrer Überraschung wird der offen schwul lebende Adrien (Rabah Nait Oufella) ihr Zimmergenosse. Die Familie von Justine hat bisher streng vegetarisch gelebt, doch bereits das Aufnahmeritual an der Uni zwingt die junge Frau eingelegte Hasennieren zu essen. Vor allem ihre ältere Schwester drängt als ältere Kommilitonin die Neulinge zu diesem Ritual. Ein paar Tage später bekommt Justine einen Ausschlag. Kommt dieser Ausschlag, der sich an mehreren Stellen des Körpers ausbreitet, vom Fleischessen ? Sollte eigentlich mit einer Salbe in ein paar Tagen wieder gut sein, doch mental hat es was ausgelöst. In Justine kommt plötzlich eine Lust auf Fleisch zu essen. Mit ungeahnten Folgen und mit immer größerer Gier...




Ein ungewöhnlicher Horrorfilm mit einigen Szenen, ganz nah am Tabubruch. "Raw" ist die Geschichte einer introvertierten Aussenseiterin, die kannibalistische Neigungen bei sich entdeckt. Doch dieser Kannibalismus fungiert dabei auch als Metapher und symbolisiert die unterdrückte und unkontrollierte Sexualität, die allmählich in der jungen Frau erwacht und sie dabei den Boden unter den Füßen verliert. Es herrscht Chaos und sie verliert bei der Entdeckung dieser Neigung zunehmend die Kontrolle. Am Ende setzt die Regisseurin mit einem obskuren und auch zynischen Sahnehäubchen noch einen interessanten Plot. Natürlich erinnert dieser Bodyhorror auch an DAvid Cronenberg,  den Meister dieser Sparte. Diie jungen Darsteller spielen klasse.




Bewertung: 8 von 10 Punkten.

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