Regie: Ken Loach
Billy Casper und sein Falke...
Billy Casper, ein Junge aus einer tristen Bergarbeiterstadt namens Barnsley in Nordengland, trainiert auf einer grünen Wiese seinen Falken Kes. Von weitem ist die Stadt mit den vielen Schornsteinen zu sehen. Ein flüchtiger Lichtblick, der das Leben des Jungen für kurze Zeit erhellen kann. Am Ende von Ken Loachs "Kes" wird aber diese Hoffnung jäh vernichtet, das Schlußbild zeigt Billy, wie er seinen geliebten Falken in der Erde begräbt. Getötet aus Rache, denn der Junge vergaß den Tippschein seines Bruders abzugeben, der diesem 16 Pfund eingebracht hätte. Aus Wut musste dann der stolze Raubvogel dran glauben, der für den Tierquäler "nicht mal 3 Pence wert ist" - ein extrem trauriger Moment, als Billy seinen Vogel aus dem Mülleimer holt. "Kes" entstand 1969 nach dem Roman "Und fing sich einen Falken" von Barry Hines, der dann auch gemeinsam mit dem damals noch auf Anfang seiner Karriere stehenden Ken Loach das Drehbuch. An den Rechten für eine Verfilmung war auch Disney interessiert, sie bestanden allerdings am Ende auf ein Happy End. Dies wollte Hines auf keinen Fall - er sah darin die Integrität seines Werkes zerstört. Tatsächlich bezieht der sozialkritische Film seine große Stärke aus dieser Vernichtung einer Hoffnung für eine bessere Zukunft.
Intererssanterweise konnte Ken Loach lange Zeit nicht an den Erfolg
von "Kes" anknüpfen, es gelang ihm jedoch Anfang der 90er aber
tatsächlich ein fulminantes Comeback mit Filmen wie "Riff Raff",
"Raining Stones", "Ladybird Ladybird" oder "Land and Freedom" -
möglicherweise lags daran, dass man es ab dieser Zeit dem bekennenden
Trotzkisten nicht mehr ganz so schwer machte wie in der Zeit von Maggie
Thatcher, wo es immer mal wieder Sendeverbote oder Zensurauflagen gab.
Tatsächlich erinneren Loachs Arbeiten ein bisschen an der
italienischen Neorealismus. Auch "Kes" zeigt realistisch ein Bild der
tristen Arbeiterstädte Nordenglands, die Jugend ist sozial benachteiligt
und daher auch perspektivlos. Dies gilt für den 15jährigen Billy Casper
(David Bradley). Der Vater ist abgehauen, war gewalttätig und ein
Alkoholiker. Mit seinem älteren Stiefbruder Jud (Freddie Fletcher) muss
er zwar das Bett teilen, doch ansonsten streiten sich die Brüder oft.
Mutter Casper (Lynne Perrie) ist berufstätig, freut sich auf den
Samstag, wo sie auch Männerbekanntschaften macht und kümmert sich eher
wenig um ihre Sprösslinge. Billy ist in der Schule einer der
Aussenseiter - er ist der Junge, der immer wieder durch Dummheiten und
Streiche auffällt, aber auch von seinen Mitschülern geärgert wird. Im
Sportunterricht treibt er den Lehrer zur Weißglut. Wenn der überforderte
Schuldirektor Tazen auf die Handteller der Schüler verteilt, dann ist
Billy meistens dabei. Ansonsten ist der Junge ein Träumer, der noch
keinen Plan fürs weitere Leben hat. Eines Tages ändert sich aber alles,
als Billy ein Falkennest entdeckt und dort einen der jungen Vögel mit
nach Hause nimmt. Natürlich wächst mit dem Vogel auch das Interesse für
die Falknerei. Der Junge bewundert seinen gefiederten Freund, weil
dieser sich nicht zähmen lässt. Das Tier bleibt unabhängigig und stolz,
genauso ist er fasziniert von dem Jagdverhalten des Falken. Da er das
Buch über Falknerei, dass er in einem Second Hand Shop geklaut hat,
eingehend studiert hat, gelingt es ihm tatsächlich das Vertrauen von Kes
zu gewinnen. Nach einer gewissen Zeit sind die beiden so stark
verbunden, dass Billy den Vogel frei fliegen lassen kann. Kes kehrt
wieder zurück - die Freundschaft mit Kes und auch die Verantwortung, die
mit dieser Freundschaft verbunden ist, stärken den Jungen mental. "Kes"
ist kein Spielzeug, sondern ein Lebewesen, dem man Respekt zollt. In
der Englischstunde spricht Billy über sein neues Hobby, der
Englischlehrer Mr. Farthing (Colin Welland) lobt den Jungen dafür und
auch die Mitschüler hören andächtig zu als der Junge von seinen
Erfahrungen mit dem Falken erzählt..
Leider endet der Film sehr traurig und die Einstellung von Jud
macht einfach traurig, vor allem weil man diese destruktive und
zerstörerische Verhaltensweise auch immer wieder in den eigenen
Erlebnissen finden kann. "Kes" ist ein wunderschöner Film über die
Freundschaft, über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier und über die
wichtigen Dinge des Lebens. Ebenso ein Plädoyer für Freiheit. Ebenso
aber werden diese schönen Momente von einer zerstörerischen Kraft
heimgesucht, die in einem Augenblick alles kaputtmachen kann, was einen
Wert hat. Loach hat einen emotional aufwühlenden Film gemacht mit sehr
viel beeindruckenden Einzelszenen. Unvergessen die Sequenz vom
Sportunterricht, wo der Lehrer den großen Fuballgott mimt und die Jungs
total schikaniert. Man sieht wie überfordert die Lehrer auch mit den
Schülern sind, die nicht ganz so gute Startmöglichkeiten in einen Beruf
haben werden. "Kes" kam in der Umfrage über die 100 besten britischen
Filme aller Zeiten auf Platz 7 - ein Rang, den er auf alle Fälle
verdient hat. Noch immer ist "Kes" das absolute Meisterwerk eines
Spitzenregisseurs, der viele gute Filme realisiert hat. Der nüchterne
Dokucharakter des Films verstärkt sogar die emotionale Wucht, die der
Film in sich hat. Die meisten Figuren wurden von Laiendarstellern
gespielt - so auch David Bradley der junge Hauptdarsteller, der Sohn
eines Bergarbeiters, blieb bei der Schauspielerei und konnte in der
Theateraufführung des Stückes "Equus" große Erfolge feiern.
Bewertung: 10 von 10 Punkten.
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