Regie: David Lean
Das Schicksal eines Findelkinds...
Lange vor Steven Spielberg galt David Lean als der erfolgreichste
Regisseur des Kinos. Mit "Die Brücke am Kwai", "Lawrence von Arabien"
und "Doktor Schiwago" schuf er Kinohits für die Ewigkeit. Filme, die
immer noch zu den erfolgreichsten aller Zeiten gehören und auch viele
Jahre danach im Kino wiederaufgeführt wurden. Lean wurde dadurch ein
ausgemachter Experte für Monumentalfilme, wie auch seine Alterswerke
"Ryans Tochter" und "Reise nach Indien" beweisen. Der David Lean der
frühen Jahre darf dabei aber nie unterschlagen werden. Denn in den 40er
Jahren schuf er drei Filme, die allesamt zu den besten britischen Filmen
aller Zeiten zählen. 1945 drehte er nach einem Bühnenstück von Noel
Coward die Liebesromanze "Begegnung". Danach wandte er sich dem großen
britischen Schriftsteller Charles Dickens zu. Er drehte den
faszinierenden "Geheimnisvolle Erbschaft" und dafür gabs auch
gerechterweise 2 Oscars (Schwarz-Weiß Kamera Guy Green und fürs beste
Szenenbild). Für mich die beste Dickens-Verfilmug überhaupt. Aber
dennoch steht der zwei Jahre später reailsierte "Oliver Twist" auf
gleicher qualitativer Höhe. Eigentlich auch ein klarer Oscar-Anwärter,
wie sich spätestens 1969 in der Oscarnacht herausstellte, denn die
Musicalversion des Romans, den Carol Reed gedreht hatte, erwies sich mit
6 Oscarsiegen bei 12 Nominierungen als großer Gewinner. Lean wurde
dieser Triumph völlig verweigert - es gab keine einzige Oscarnominierung
für seinen "Oliver Twist". Dabei ist er in seiner ursprünglichen
Fassung, die endlich auf DVD erschienen ist, sogar noch ein bisschen
besser als die eh schon hervorragende Version von Roman Polanski aus dem
Jahr 2005 mit einem exzellenten Ben Kingsley als Fagin.
Der spielte genauso gut wie der brilliante Alec Guiness. Doch der
war mit seiner Verkörperung des Juden Fagin stark in die Kritik geraten.
Man warf auch dem Regisseur Antisemitismus vor. Dieser hielt dagegen,
dass er eben sehr werktreu inszenierte und sich an die Illustrationen
von Charles Dickens Zeichner Cruikshank hielt. In den USA konnte der
Film nur deshalb die Freigabe erhalten, weil er um 12 Minuten gekürzt
wurde. Alles Szenen, in den Fagin im Mittelpunkt stand. In Deutschland
wurde der Film noch wesentlich stärker verstümmelt als in den USA. Dort
fielen gleich 20 Minuten Film der Schere zum Opfer. Sicherlich ist dies
einer der Gründe warum "Oliver Twist" in all den Jahren nie zum
absoluten Meisterwerk erkoren wurde. Erst nach 52 Jahren konnte das
deutsche Publikum sich ein richtiges Bild von Leans "Oliver Twist"
machen.
Schon die ersten Szenen stimmen den Zuschauer auf die düstere
Atmosphäre des gesamten Films ein, denn in einer Gewitternacht sucht
eine hochschwangere junge Frau (Josephine Stewart) Zuflucht im
Pfarrhaus. Dort stirbt sie nach der Geburt eines Jungen, die Hebamme
(Deirdre Doyle) entwendet die Kette der Toten. Der Kirchenvorsteher Mr.
Bumble (Francis L. Sullivan) sorgt dafür, dass der Junge den Namen
"Oliver Twist" bekommt und ins Waisenhaus in die Obhut der sehr strengen
Mrs. Corney (Mary Clare) kommt. Die Kinder im Waisenhaus hungern und
als Oliver mit seinem Teller nach vorne geht und nach "mehr Essen"
fragt, wird er kurzerhand in die Obhut des Leichenbestatters Mr.
Sowerberry (Gibb McLaughlin9 gegeben. Dort bekommt der Junge zwar mehr
zu Essen, aber er ist den fiesen Schikanen des älteren Lehrlings Noah
Claypole (Michael Dear) ausgesetzt.
Als dieser auch noch seine Mutter beleidigt, verprügelt der kleine
Oliver seinen großen Peiniger - er wird in den Kohlekeller eingesperrt.
Doch es gelingt ihm die Flucht. Allein und mittellos läuft er 7 Tage -
dann erreicht er London. Dort angekommen wird der Straßenjunge Artful
Dodger (Anthony Newley) auf den Jungen aufmerksam. Er stellt ihn seinem
Meister Mr. Fagin (Alec Guinness) vor, der viele elternlose Jungs als
Taschendiebe für sich arbeiten lässt. So lernt der Junge die Kunst des
Stehlens, doch er wird bei einem der Beutezüge erwischt. Statt eine
Anzeige zu machen, nimmt der freundliche Mr. Bronlow (Henry Stephenson)
den Jungen auf. Der erfährt dort durch den älteren Herrn und dessen
Haushälterin Mrs. Bedwinn (Amy Veness) zum ersten Mal so etwas wie
Zuneigung. Als der Junge für seinen Ersatzvater etwas in der Stadt
erledigen soll, wird er von Nancy (Kay Walsh) und dem Ganoven Bill Sykes
(Robert Newton) gesehen, die in dem Jungen mit den feinen Kleidern
sofort den "Neuen" von Fagin erkennen und ihn wieder in das Versteck der
Diebe bringen. Bald wird die gutmütige Nancy aber von Schuldgefühlen
geplagt. Sie will Kontakt mit Bronlow aufnehmen, der nach Oliver
sucht...
Am Ende fügt sich das Schicksal des Waisenjungen natürlich ein
bisschen wie im Märchen zum Guten, aber das ist Charles Dickens - und
der lieferte in seinen Büchern aber immer genügend von sozialer
Sprengkraft. So auch hier in "Oliver Twist". Und David Lean erweckt auch
durch ein klasse Schauspieler-Ensemble die Figuren des Romans zum
Leben. Neben Alec Guinness ist es vor allem auch Robert Newton als der
brutale Sykes, der hier eine große Darstellerleistung beweist. Er hat
mit seinem Hund sogar mit die besten Szenen des Films. Etwa dann wenn er
ausser sich vor Zorn und nicht mehr steuerbar seine Geliebte auf
grauenhafte Weise tötet, so dass sein treuer Hund sogar das Weite suchen
will und das Tier noch stundenlang am ganzen Körper zittert. Er will
diesen dann auch ertränken, doch der läuft weg und bringt am Ende die
Polizei und den ganzen aufgebrachten Mob zum Versteck der Diebe. Lean
hat dieses wunderbare Buch filmisch grandios umgesetzt - vor allem die
düstere, klaustrophobische Stimmung ist allgegenwärtig und macht den
Film zum düsteren Meisterwerk in der Kategorie der
Literaturverfilmungen. Die Schauplätze wie das Armenhaus, die Werkstatt
des Leichenbestatters, der verdreckte Dachboden, wo Fagin mit seinen
Jungen haust oder die Schenke um die Ecke - alles ist bis ins kleinste
Detail den Beschreibungen von Charles Dickens nachempfunden. "Oliver
Twist" wurde vom Britischen Filminstitut auf Platz 46 der besten
britischen Filme aller Zeiten gewählt. Der kleine Oliver Twist wurde von John Howard Davies gespielt.
Bewertung: 10 von 10 Punkten.
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