Regie: Vera Chytilova
Zweimal Marie...
Gibt es
einen Zusammenhang zwischen dem häufigeren Gebrauch von
bewusstseinserweiternden Drogen und der Vielzahl von psychedelischen und
surrealen Filmen ab Mitte der 60 Jahre. Zumindest gab es in dieser Zeit
viele Filmemacher, die mit solchen bizarren Explosionen auf der
Leinwand experimentierten. Vera Chytilovas aggressive feministische
Farce "Tausendschönchen" gehört sicherlich dazu. Der Originaltitel des
Films heißt "Sdmikrasky" - in einer Umfrage der BBC im Jahr 2019 über
die besten Filme, die von Frauen inszeniert wurde, landete
"Tausendschönchen" auf Platz 6. Der Film zeigt Eskapaden von zwei
17jährigen Mädchen auf, die beide Maria heißen. Jitka Cerhova und Ivana
Karbanova spielen diese Mädels, die eienn Hang haben ältere Lüstlinge
auszunutzen und wilde Schlachten mit gutem Essen veranstalten. Gerade
diese letztgenannten Szenen führten dazu, dass der Film nach der
Zerschlagung des Prager Frühlings mit einem Aufführungsverbot belegt
wurde. "Tausendschönchen" gehört zu der tschechoslowakischen Neuen
Welle, denn er wirkt irgendwie kritisch gegenüber dem Autoritarismus,
dem Patriarchat und auch der kommunistischen Lebensphilosophie. Der
Titelvorspann wechselt zwischen Aufnahmen eines sich drehenden
Schwungrads und Aufnahmen von Flugzeugen, die den Boden bombardieren.
Die erste Szene zeigt Marie I und Marie II in Badeanzügen sitzend.
Knarrende Geräusche begleiten ihre Bewegungen und ihre Unterhaltung ist
roboterhaft. Sie beschließen, dass sie, da die ganze Welt verdorben ist,
ebenfalls verdorben werden. Die Maries tanzen vor einem Baum, an dem
viele verschiedene Obstsorten hängen. Marie II isst einen Pfirsich vom
Baum und die Maries erscheinen in ihrer Wohnung. Marie I verabredet sich
mit einem älteren Mann. Marie II taucht auf und sagt, sie sei Marie I’s
Schwester und isst viel, während sie sich über das Date lustig macht
und die amourösen Absichten des Mannes durchkreuzt. Sie fragt, wann der
Zug des Mannes abfährt und das Trio geht zum Bahnhof. Marie I steigt mit
dem Mann in den Zug, bevor sie sich davonschleicht und mit Marie II
nach Hause geht. Die
Maries gehen in einen Prager Nachtclub, wo sie einem Tanzpaar im Stil
der 1920er Jahre die Show stehlen und die Gäste mit ihren betrunkenen
Mätzchen nerven. Marie II. unternimmt einen Selbstmordversuch, indem sie
ihre Wohnung mit Benzin füllt, scheitert jedoch, weil sie das Fenster
offen gelassen hat. Marie I. macht ihr Vorwürfe, weil sie Benzin
verschwendet hat. Die Maries flirten mit einem anderen Mann, um ihn dazu
zu bringen, ihr Essen zu bezahlen, bevor sie ihn in seinen Zug
verabschieden. Sie weinen, als er geht, brechen dann aber in Gelächter
aus. Marie II. geht in die Wohnung eines Mannes, der Schmetterlinge
sammelt. Er erklärt ihr wiederholt seine Liebe, aber sie fragt nur, ob
es etwas zu essen gibt. Die Maries rauben eine freundliche Toilettenfrau
aus. Zurück in ihrer Wohnung schneiden sie verschiedene phallische
Lebensmittel auf, während der Schmetterlingssammler Marie II. am Telefon
seine Liebe erklärt. Als die Maries versuchen, einen viel älteren Mann
in einen Zug zu verabschieden, steigt er aus, also steigen sie in den
fahrenden Zug und lassen ihn schließlich am Bahnhof zurück. Die
Maries sehen sich alle Namen und Telefonnummern an, die an den Wänden
ihrer Wohnung stehen, und versuchen, einen Mann auszuwählen, den sie
anrufen können. Ein Mann klopft an die Tür von Marie II, aber Marie I
neckt sie und sie lässt ihn nicht herein. An einem Pool sagt jede Marie
der anderen, dass sie sie nicht mehr mag. In ihrer Wohnung baden die
Maries in einer Badewanne voller Milch mit einem Ei und philosophieren
über Leben und Tod, Existenz und Nicht-Existenz. Auf dem Land bemerkt
ein Bauer die Maries nicht. Als eine Gruppe von Arbeitern, die auf
Fahrrädern vorbeifahren, sie ignoriert, beginnt Marie II sich zu fragen,
ob sie verschwunden sind. Sie beschließen, dass sie existieren müssen,
als sie an einem Chaos vorbeikommen, das sie mit gestohlenen Maiskolben
angerichtet haben. Zurück in ihrer Wohnung schneiden sie sich
gegenseitig mit Scheren in Stücke. Die Maries schleichen sich in den
Keller eines Gebäudes. Sie fahren mit einem mechanischen Speiseaufzug
mehrere Stockwerke hinauf und finden ein Festmahl, das bereits fertig
angerichtet ist, obwohl niemand da ist. Sie essen das Essen, machen ein
Chaos und zerstören den Raum. Sie
schwingen an einem Kronleuchter, der von der Decke fällt, und werden
ins offene Wasser geworfen. Sie rufen einem nahen Boot um Hilfe zu, und
unsichtbare Matrosen strecken den Maries große Baumstämme entgegen, an
denen sie sich festhalten können. Sie werden wiederholt hochgehoben und
wieder ins Wasser getaucht, bevor sie den Halt verlieren. Sie sagen, sie
wollen nicht mehr verwöhnt werden. Die letzte Szene zeigt die Maries,
wie sie ins Esszimmer zurückkehren. Sie fegen die schmutzige Tischdecke
weg, decken den Tisch mit Tellerscherben und zerbrochenen Gläsern und
schütten das Essen zurück auf die Platten, während sie flüstern, dass
sie brav und fleißig sein sollen, damit alles wunderbar wird und sie
glücklich sind. Als sie fertig sind, legen sie sich auf den Tisch und
sagen, sie seien glücklich. Marie II. bittet Marie I., dies zu
wiederholen, und Marie I. fragt, ob sie so tun, als ob sie das tun.
Marie II. verneint. Der Kronleuchter fällt auf sie, und der Film
wechselt zu Kriegsaufnahmen, über denen eine Erklärung erscheint, in der
der Film denen gewidmet wird, die sich nur über ein zertrampeltes
Salatbett aufregen...
Während des gesamten Films dienen die beiden Hauptfiguren als übertriebene Schachfiguren für Chytilovás satirische Herangehensweise an weiblichen Stereotypen. Sollte der Film etwa unangenehm provozierend für die damaligen männlichen Zuschauer sein ? Die beiden Maries (eine blond, die andere dunkelhaarig) wirken mit aufgesetzt hohen Stimmen und den kindlichen Manierismen genau so, wie sich der starke Mann die attraktive junge Frau gerne hätte. Ausserdem hat Very Chytilova sichtlich Spass die Grenzen wohlerzogener Ettikette zu überschreiten. Der Film wirkt etwas wie ein gezielter Angriff auf gute Manieren.
Bewertung: 7 von 10 Punkten.
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